Die Geschichte der Detroit Lions war eine der schönsten der aktuellen NFL-Saison, ein Happy End in Super Bowl LVIII fand sie aber nicht. Stattdessen zerplatzte der Traum im NFC Championship Game auf bitterste Art und Weise, wofür so mancher Head Coach Dan Campbell die Verantwortung zuschiebt. Ist das fair?
Detroit ist seit vielen Jahrzehnten eine gebeutelte Stadt. Eigentlich kennt jeder die Tragödie der einstig stolzen Motor City, einem der Herzstücke der amerikanischen Autoindustrie, das nach dem Niedergang seiner Kernbranche, verirrter Politik und sozialem Verfall in einem strukturwandlerischen Albtraum gefangen ist. Hier sind die zugenagelten Fensterläden, die leeren Geschäfte, die verkommenen Gebäude, die verlorenen Seelen keine Hollywood-Kulisse oder Fotos in irgendeinem Politmagazin, sie sind echt, mit all ihrer Wucht, all ihrem Schmerz.
Detroit kann wieder stolz auf seine Lions sein
Wie kaum andere Orte braucht eine Stadt wie Detroit Hoffnung, wo immer sie diese finden kann. Auch nach einem teilweise erfolgreichen Neuanfang braucht sie eine Erzählung, einen Funken, der den Geist der Menschen in all ihrer Dunkelheit aufrichtet. Sport hat diesen in der Vergangenheit in Michigan immer wieder gegeben. Mal waren es die Tigers in der Major League Baseball, mehrfach übernahmen die Pistons diese Rolle in der NBA. Nicht zu vergessen die Red Wings mit ihren vier Titeln auf dem NHL-Eis zwischen 1997 und 2008 oder die punktuellen Erfolge naher College-Teams wie den Michigan State Spartans oder Michigan Wolverines. Jene halfen für einen Moment zu vergessen, sie halfen einen Moment Freude zu empfinden, was echtes Leben nicht ungeschehen, aber immerhin wesentlich erträglicher macht.
Dieses Jahr schien es fast, als wäre es das Jahr der Detroit Lions, als wären sie an der Reihe. Lange konnte die NFL-Franchise der Stadt keine bis wenig Ablenkung zum Alltag bereitstellen, stattdessen fanden sie eher neue Wege, die Tristesse ihrer Heimat auf sportliche Art und Weise zu spiegeln. Aber mit Dan Campbell kam vor einigen Jahren die Wende. Detroiter sind wieder stolz auf ihre Löwen, zunächst weil ihr Trainer „Kniescheiben abbeißen“ will, dann weil er markigen Worten Taten folgen ließ. Taten wie sie sein Team zuhauf in dieser aktuellen magischen Saison präsentiert hat. Taten, welche die Lions bis ins NFC Championship Game und fast auch noch bis in den Super Bowl LVIII getragen haben. Aber eben nur fast.
Dan Campbell erntet Kritik für 4th-Down-Entscheidungen
Trotz einer 24:7-Halbzeitführung gelang es den Lions nicht, die favorisierten San Francisco 49ers zu schlagen und damit den vorletzten Schritt zur NFL’schen Unsterblichkeit zu machen. Besonders im Fokus dabei, wie könnte es anders sein: Dan Campbell. Mit zwei fragwürdigen 4th-Down-Decisions, bei denen sich der emotionale Head Coach gegen machbare Fields Goals und für letztlich scheiternde vierte Versuche entschied, begünstigte er direkt wie indirekt das Comeback der Niners. Es war die Art Vorgehensweise eines Trainers, die in der heutigen Zeit in bloßen Sekunden im World Wide Web diskutiert, analysiert und nicht selten von etlichen diskreditiert wird. Was in gewisser Weise natürlich vollkommen legitim und zeitgeistlich ist, mitunter aber einen Bezug zur Realität verliert. Vor allem in der vorgelebten unfehlbaren Konsequenz mancher Aussagen, deren Urheber schon bei einem Play Call im Freitagstraining dermaßen aufgeregt wären, dass sie schnell an die stillende, stille Brust namens X zurückkehren würden. Ohne zu merken, dass sie eigentlich Waisen sind.
Everyone can argue about Dan Campbell's decision making. But this is how his players feel about him.
— Jeanna Trotman (@JeannaTrotmanTV) January 29, 2024
Strongest words from Frank Ragnow: "I didn't even realize how good of a coach there is out there until I met him. He just blew me away. And he continues to blow me away." pic.twitter.com/mcyX0HTObz
Das altbekannte Lied von „hinterher ist man immer schlauer“ läuft bei Dan Campbell in den letzten Tagen auf Dauerschleife, er selbst weiß am besten, dass dies zu seinem Job gehört wie das Tackle zum Football. „Ich verstehe natürlich, dass das auf die Goldwaage gelegt wird“, so ein niedergeschlagener Campbell nach der Niederlage in San Francisco in einer mal wieder bemerkenswert ehrlichen Pressekonferenz. „Es ist Teil meines Berufs. Ich verstehe das, aber ich bereue diese Entscheidungen nicht.“ Warum sollte er auch, schließlich ist diese Art der Entscheidungsfindung einer der Gründe, warum die Lions überhaupt im NFC Championship Game am Sonntag standen. Das Pokern, das Risiko, sie zählten so sehr zu ihrer Identität wie ihr Head Coach selbst, dessen größte Leistung es bis heute war, aus einer jahrelangen Verliererfranchise ein Winner-Team zu machen, das sich einen Großteil ihres Selbstvertrauens vor allem mit dem Hang zum offenen Visier verdient hat.
Dan Campbell und Detroits Authentizität gehen Hand in Hand
Von daher ist Campbells Aussage und das Festhalten an seiner Strategie für den Moment genau das richtige. Es wäre besorgniserregend, wenn er auf einmal einen Fehler darin sehen würde, alles auf eine Karte zu setzen. Denn dann wäre nicht nur er nicht mehr er selbst, die aktuellen Detroit Lions wären nicht mehr die Detroit Lions. Ohne Authentizität bricht jedes sportliche Gebilde in sich zusammen, erst recht, wenn es aufgrund historischer Verfehlungen fragil und wackelig um die Ecke kommt. In der kommenden NFL-Spielzeiten mag alles anders aussehen, man mag ein gefestigteres Lions-Team sehen, deren Kultur und deren Gerüst so aufgestellt sind, dass sie bedachter, vorsichtiger, nennen wir es klassischer spielen können. Freunde in der Analytics-Community mögen sie damit verlieren, vielleicht reicht es dann im großen Spiel aber für den Durchbruch.
Garantiert ist dies aber keineswegs, im Gegenteil. Stattdessen wäre aber die Gefahr groß, dass Dan Campbell genau die mentale „Edge“ verliert, die seine Amtszeit und damit den Turnaround in der Motor City ausmacht. Wenn derartige Glücksspiele, was sie letztendlich natürlich gar nicht sind, auch in Zukunft vermehrt schiefgehen, dann wird man eine neue Diskussion aufmachen dürfen. Aber bis dahin muss niemand einen Trainer verteufeln, der genau das gemacht hat, was etliche Statistikdienste als das richtige erachtete haben, genau das, womit er seine Mannschaft aus dem Tabellenkeller gezogen hat. Und schaut man sich den Aufbau des Teams, die gesamte Stimmung und den Kader einmal an, dann liegt die Vermutung nahe, dass die Detroit Lions eben jenen NFL-Katakomben in den kommenden Jahren fernbleiben. Auch oder womöglich gerade weil Dan Campbell ist wie er ist.
Zu wünschen wäre es den Menschen in Detroit jedenfalls.