Pete Carroll ist mittlerweile 72 Jahre alt, der älteste Übungsleiter der NFL. Ansehen tut man es ihm nicht, er springt wild wie eh und je an der Seitenlinie herum. Warum auch nicht, schließlich ist er mit diesem Enthusiasmus immer gut gefahren.
Wenn ein NFL-Team einen Touchdown erzielt, ist auf dem Feld und den Rängen eine ganze Menge los. Die Anspannung vieler entlädt sich, Spieler wie Fans überschlagen sich beim Jubel und Coaches geben direkt Anweisungen für die kommende Series. Es ist leicht, sich in diesem Moment zu verlieren und manches Detail, manches kleines Spektakel am Spielfeldrand zu verpassen. So wie einen im Training abgesprochenen Handshake zweier Spieler, ein besonderer Dank eines Profis oder auch eine Choreographie der Cheerleader. Wer allerdings bei Spielen der Seattle Seahawks zugegen ist, dem kann eine Sache eigentlich niemals entgehen. Die Rede ist von einem seelisch scheinbar völlig entsicherten Energiebündel, dass Fäuste ballend und mit breitem Grinsen die Seitenlinie auf- und abspringt. Immer noch.
Der Trainer als Kumpel
Denn auch wenn Pete Carroll kürzlich 72 geworden ist, so hat der ehemalige Übungsleiter der Seahawks nicht einmal den kleinsten Deut seines längst legendären Enthusiasmus eingebüßt. Im Gegenteil, vielleicht ist jener heute sogar noch präsenter denn je und fällt mit jeder neuen Falte in Carrolls Gesicht deutlicher ins Gewicht. Welcher Head Coach würde denn zu Beginn fast jeden Trainings wie ein Wahnsinniger 100-Yard-Sprints auf dem Football-Feld absolvieren, in beigen Khakis, Langarm-Shirt und seinen patentierten Old-School-Sneakern? Bill Belichick oder Andy Reid wohl eher nicht. Für den Mann im Grünblau der Seahawks ist es dafür gleichsam Ehrensache wie Lebenselixier. “Das ist einfach Pete, Mann“, lacht Quarterback Geno Smith auf die Lauffreude seines Chefs angesprochen.
“Einfach Pete“ - in jenen Worten steckt genau die Akzeptanz von Individualität, die eines der Fundamente von Carrolls Coaching-Philosophie ausmacht. Bei ihm dürfen Spieler zu jeder Zeit sie selbst sein, sollen es sogar, um sich dann mit stetem Bewusstsein des gemeinsamen Ziels in das Teamkonzept der Seahawks zu fügen. Für Carroll gilt das ebenfalls. Somit lebt er auch heute im fortgeschrittenen Alter noch den jovialen Kumpeltyp vor und klatscht mit ihnen ab wie ein ergrauter Alt-Surfer aus Kalifornien, dem man seine Jagd nach der großen Welle niemals wird nehmen können. Egal ob auf einem Rock-Konzert, dem Basketball-Court oder oben ohne im viralen Video, Carroll wirkt selten fehl am Platz. Nicht mehr jedenfalls.
Es gab eine Zeit, da war das anders, ganz besonders in Bezug auf die NFL. Denn als der energische Coach Anfang der 1990er Jahre seinen ersten Cheftrainerposten bei den New York Jets übernimmt wundern sich nicht wenige Spieler, was dieser laute Westküsten-Halodri eigentlich von ihnen will. Auf den Kulturschock folgt ein paar Monate später ein sportlicher, als die Jets unter Carroll dem berühmten “Fake Spike“ von Dan Marino zum Opfer fallen. Eine vielversprechende Saison entgleist und Carroll wird nach sechs Siegen bereits nach einem Jahr gefeuert. “Gefangene im Todestrakt bekommen mehr Zeit als er damals“, scherzt der langjährige Jets-Center Jim Sweeney im Nachhinein. Auch bei seiner zweiten Station in New England macht Carroll kurz darauf durchaus einiges richtig, seine letztendliche Bilanz von 34 Siegen aus 77 NFL-Spielen zeugt dann aber eher von einer Art Mittelmaß, die auf Dauer für eine Franchise nicht tragbar ist. Carroll scheint gescheitert, findet dann aber ein neues Glück an seiner geliebten Westküste.
Neun Jahre Hollywood an der USC
Bei der University of Southern California wird Carroll mit der Aufgabe betraut, das historische College-Program in Los Angeles wieder zu alter Größe zu führen. Viele trauen der eigentlich vierten Wahl für den Posten diese Mammutaufgabe nicht zu, erst recht nicht, nachdem fünf der ersten sieben Spiele verloren gehen. Die folgenden 67 Siege aus 74 Spielen lösen die Sorgen allerdings in Wohlgefallen auf. Carroll wird quasi im Handumdrehen zum König von L.A., hebt die Trojans in fast ungeahnte Sphären und macht sie zu einer der Top-Adressen im gesamten College Football. Er profitiert dabei von der Abwesenheit eines NFL-Teams in der Stadt der Engel, der besonderen Faszination der Filmmetropole und dem sonnigen California-Lifestyle, welcher unzählige Top-Rekruten gen Westen lockt. Angekommen, werden die jungen Talente mit einem der unkonventionellsten Trainer des Landes konfrontiert. Und entgegen der Profis knapp zehn Jahre davor lieben die Studenten Carrolls fanatische bis verrückte Arbeitsweise.
Stars wie George Lucas, Snoop Dogg oder Alyssa Milano geben sich beim stets öffentlichen Training die Klinke in die Hand, unter turmartigen Palmen wirkt der Campus wie eine Traumwelt. Carroll nutzt zukunftsorientiert die Sozialen Medien und lockert stets die Stimmung mit ausgefallenen Scherzen auf. Spieler werden vermeintlich vom LAPD beim Training verhaftet, ein Runningback täuscht seinen eigenen Tod vor – nur um kurz darauf mitsamt Carroll in bellendes Lachen auszubrechen. Gelöst und übertalentiert holt die USC 2003 und 2004 die National Championship, schickt unzählige Stars in die NFL und hebt ihren Trainer auf das Dach der Football-Welt. Kein Wunder, dass es ihm dort gefällt. “Ich gehe die Sache hier an, als ob es der letzte Job meines Lebens ist“, sagt Carroll. “Ob er das ist weiß ich nicht, aber ich kann mir nicht vorstellen, etwas anderes zu machen. Es ist ein wahrer Segen.“
Dieser findet aber nach neun Jahren voller Rekorde und Highlights ein mehr oder weniger abruptes Ende. Carroll kündigt 2010 seinen Wechsel zu den Seattle Seahawks an, kurz bevor sich die Trojans schwerwiegenden Vorwürfen des unerlaubten Recruitings gegenüber sehen. Unter anderem hat College-Superstar Reggie Bush finanzielle Zuwendungen erhalten. In der Folge verliert die USC Ansehen und etliche der besagten Rekorde, ihr Head Coach Carroll habe aber laut eigener Aussage von all dem nichts gewusst. Was er allerdings damals weiß ist, dass der Job in Seattle, den er parallel mit General Manager John Schneider antritt, seine letzte Chance auf der NFL-Bühne darstellt. Eine Chance, die Carroll unbedingt nutzen möchte.
Neuanfang im Nordwesten
Gerade in den ersten Saisons krempeln die beiden Verantwortlichen den Kader der Hawks komplett um und basteln gleichzeitig an einer neuen Kultur im Nordwesten. Trainingseinheiten ähneln historischen Filmschlachten, Spieler werden auf persönlicher Ebene wahrgenommen sowie gefördert und flächendeckendes Selbstvertrauen entsteht. Carroll kreiert die berühmte Secondary namens “Legion Of Boom“, die zusammen mit einer opportunistischen Offensive unter Russell Wilson und Marshawn Lynch den Grundstein für den Aufstieg Seattles liefert. Carroll spielt an der Uni einst selbst Safety, die Verteidigung bleibt bei allen extravaganten Offensiventscheidungen sein Steckenpferd. Eines, das die Seahawks zum Sieg in Super Bowl XLVIII trägt und viermal in Folge die beste Scoring-Defense der Liga wird. Seattle verpasst nur knapp einen zweiten Super Bowl und damit das Label als echte Dynastie. Jene verpasste Chance 2014 kreiden viele Carroll selbst an, da die Seahawks berühmterweise einer Slant kurz vor Schluss von der Ein-Yard-Linie vertrauen anstatt den Ball zu laufen.
Es bleibt bis heute Carrolls letzter Super Bowl, was seinem Enthusiasmus keinen Abbruch tut. Ebenso wenig wie der Abgang Wilsons, den viele als das Ende einer Ära in Seattle ansehen, den Carroll aber mit nur noch mehr Energie, positiven Gedanken und Siegen beantwortet. Seine Philosophie beweist sich mit den jüngsten Erfolgen abermals neu, wobei Carroll sich auch auf sehr traditionelle Schulen beruft. Eine seiner großen Inspirationen ist John Wooden, der legendäre Basketball-Coach an der UCLA zu den Zeiten Lew Alcindors. “Aus seinen Büchern lernte ich, dass man für den Erfolg eine laute, deutliche Message haben muss, die jeder versteht.“ Von Jerry Garcia, dem Leader von Carrolls Lieblingsband Grateful Dead, stammt ein weiteres Mantra, welches der Coach seit jeher schätzt: “Wir wollen nicht die besten sein, die etwas tun, sondern die einzigen.“
Dementsprechend versucht Carroll ganz nah bei seinen Spielern zu sein, sieht sie als Menschen und stellt Fragen, die keinem anderen Trainer in den Sinn kommen. Er sieht eine Korrelation zwischen privatem Wohlbefinden und sportlicher Höchstleistung. Ernährung, Gesundheit, Psychologie – alles spielt eine Rolle bei ihm und schafft in Kombination mit einem akribisch positiven Mindset den Schlüssel zu jeglichen Erfolgen. So dürfte der von vielen als ultimativer “Players Coach“ gesehene Übungsleiter es wohl noch viele Jahre tun, denn Pete Carroll kann man sich im Ruhestand schließlich nur schwer vorstellen. Irgendwie wäre das nicht “einfach Pete“…
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Dieser Artikel erschien in Heft #74 Ausgabe OKT 2023 und ist Teil unserer Serie "GESICHTER DER NFL".
In Heft 77 / JAN 2024 portraitiert Autor Moritz Wollert Dallas Cowboys Owner Jerry Jones und in der kommenden Ausgabe wird es Kyle Shanahan, Head Coach der San Francisco 49ers, sein.