Kenny Pickett ist bei den Steelers wohl erst einmal zum Zuschauen verdammt. Credit: Imago Images / Icon Sportswire / Brandon Sloter

Wenn in der NFL ein Quarterback weit oben im Draft gezogen wird, dann giert seine neue Anhängerschaft in der Regel danach, ihn schnell als ersten Mann hinter dem Center zu sehen. Nicht jedes Team tut seinen Fans diesen Gefallen und parkt selbst hochgehandelte Talente zunächst einmal auf der Ersatzbank. Was jetzt genau der richtige Weg ist, einen jungen Quarterback zu entwickeln, daran scheiden sich nach wie vor die Geister. Und das nicht zu knapp!

So mancher unter den Pittsburgh Steelers konnte sein Glück beim NFL Draft 2022 kaum fassen. Da saß die Traditionsfranchise mit dem 20. Pick doch eigentlich im ziemlichen Niemandsland der ersten Runde fest und hatte wenig Aussicht darauf, einen Nachfolger für den langjährigen Top-Quarterback Ben Roethlisberger zu finden. Man hatte zwar Mitch Trubisky in der Free Agency geholt, aber so richtig Euphorie für die kommende Saison oder gar Hoffnung darüber hinaus konnte er nicht entfachen. Das gelang Kenny Pickett, dem letztendlichen Pick der Steelers, dann auf gewisse Weise schon. Schließlich ist er bei all seinen Fehlern ein unbeschriebenes Blatt, gilt als ziemlich "pro ready" und kommt auch noch mit lokaltypischer Toughness ausgestattet von der stadteigenen Uni um die Ecke. Für ihn spricht das reine Potenzial, die Rolle des "Quarterbacks der Zukunft" ausfüllen zu können. Nicht wenige Fans würden ihn daher lieber heute als morgen in der Starting Lineup der Steelers sehen, koste es, was es wolle. Daraus scheint aber zunächst einmal nichts zu werden.

Denn die meisten Reports aus Pittsburghs Camp berichten, dass Pickett sich zunächst einmal hinter Trubisky und sogar dem langjährigen Backup Mason Rudolph eingereiht hat und dass er womöglich sogar bloß als Quarterback Nummer Drei in die kommende NFL Saison gehen könnte. Die faninterne Euphorie heizt man damit bestimmt nicht an, noch schürt man unbedingt große Hoffnungen, dass die beiden bisher doch eher unscheinbaren Veteranen die Franchise irgendwie dem Super Bowl näherbringen könnten. Das bedeutet allerdings noch gar nichts für Kenny Picketts langfristige Perspektive. Es sagt lediglich, dass sich die Steelers bei ihm für einen von zwei ganz unterschiedlichen Wegen entschieden haben, mit denen man einen jungen Quarterback entwickeln kann. Es ist die Variante, bei der ein Rookie zunächst einmal von der Bank aus zuschauen und sich langsam in die Mannschaft sowie das Profigeschäft hineinarbeiten soll. Nicht gerade sexy, aber durchaus besonnen. Dem entgegen steht die Option, einen Rookie prompt ins kalte Wasser zu werfen und sofort dem Haifischbecken NFL auszusetzen. Damit stählt man den Youngster extrem früh, nutzt jede Minute seines für die Franchise noch einigermaßen verträglichen Rookie-Contracts und beschleunigt gleichzeitig den eigenen Erkenntnisprozess. "Learning by doing" heißt hier die vorrangige Prämisse.

Wie entwickelt man einen talentierten Quarterback?

Die große Frage – für die Pittsburgh Steelers im Jahr 2022 und für unendlich viele Teams vor und nach ihnen – lautet nun: Welcher Weg ist denn der Richtige? Ein Blick auf historische Beispiele hilft nicht wirklich weiter. Aaron Rodgers, Patrick Mahomes und Tom Brady konnten mit Sicherheit davon profitieren, zunächst einmal einem Veteranen bei seinem Tagwerk zuzuschauen, dafür hätten die Teams von J.P. Losman oder Brady Quinn sicherlich gerne früher gewusst, dass sie anstatt Rohdiamanten eher sportlich wertlose Kieselsteine gepickt hatten. Peyton Manning, Russell Wilson oder Matt Ryan hat es auf lange Sicht keinesfalls geschadet, dass sie vom ersten Tag an die Zügel in der härtesten Liga der Welt in der Hand hielten. Genauso gibt es unendlich viele Beispiele von Ryan Leaf über David Carr bis hin zu Mark Sanchez, bei denen etwas mehr Reife und Besonnenheit sicherlich gut getan hätte. Diese unterschiedlichsten Ausgänge verdeutlichen, warum man heute wahrscheinlich von jedem NFL-Coach eine andere Antwort auf die sensible Frage nach der richtigen Strategie bekommen würde. Sinn würden dabei wahrscheinlich zumindest in der Theorie alle machen.

Tatsache ist, dass es nicht den einen Weg bei der Entwicklung eines Quarterbacks gibt. Es gab ihn noch nie und wird ihn wohl auch in der Zukunft nie geben, sonst hätten ihn analytische Statistiken wohl schon längst herausgefunden. Das Bestehen oder Scheitern eines jungen Signal Callers hängt einfach von viel zu vielen unterschiedlichen Faktoren ab. Wie gut ist das Supporting Cast? Wie weit ist der jeweilige Rookie? Was für ein System hat er am College gespielt? Wie gut ist die Offensive Line? Wo liegen die Erwartungen an ihn und an die Mannschaft? Wer unterstützt ihn als Backup, Offensive Coordinator oder Quarterbacks Coach? Gibt es körperliche oder spielerische Defizite, die erst ausgemerzt werden müssen? Wie steht es um die mentale Stärke? Tut ihm die Ersatzbank gut, kann er sich zurücknehmen? Wie ist die Situation für den Coaching Staff und wird eventuell externer Druck aufgebaut? Diesen Fragenkatalog könnte man noch unendlich weiterführen.

Talent und Selbstvertrauen sind fragile Komponenten

Die individuelle Konstitution eines jeden einzelnen Spielers ist letztendlich von enormer Wichtigkeit und wirkt sich direkt auf den Effekt möglicher Trainingsmaßnahmen aus. Manch ein Spieler braucht früh eine Challenge und will hart gecoacht werden, ein anderer dagegen fühlt sich eventuell zunächst überfordert von der großen Profiwelt und sucht eher eine ruhigere Ansprache. Es geht hierbei nicht um richtig oder falsch, letztendlich führen mehrere Wege nach Rom und das gemeinsame Ziel aller sollte die optimale Entwicklung eines Talents sein. Die Zerbrechlichkeit von eben jenem muss dabei immer unter Beobachtung stehen. David Carr, der First Overall Pick 2002 der Houston Texans, wurde als Rookie satte 76 Mal gesackt, ein Martyrium, von dem er sich nie wieder in seiner späteren bestenfalls durchschnittlichen Karriere erholte. Wer weiß, ob es heutige Größen und All Timer unter jenen Umständen auch zu den illustren Laufbahnen gebracht hätten, für welche man ihnen irgendwann einen Platz in Canton zuteilwerden lässt. Carr hatte dafür wohl auch von seinem Talent nicht das Zeug, aber eine echte Chance hat er auch nie bekommen. Ähnlich geht es anderen Quarterbacks, die in miserablen Situationen von nicht passenden Umständen früh von ihrem Weg abgebracht werden und denen früh mit ihrem Selbstvertrauen eine der wichtigsten Grundlagen für durchschlagenden Erfolg in der NFL genommen wird.

Man mag es als Schwäche oder Makel erkennen und das Scheitern jeweils den Spielern selbst ankreiden, was in vielen Fällen (Hust, Jamarcus Russell, hust) sicherlich auch der Fall ist. Nur gilt es immer zu beachten, dass selbst die größten Spieler in der Liga auf ein gewaltiges Support-System angewiesen sind, was von den Händen ihrer Receiver über den Stance ihres Centers bis hin zur Empathie der Fanbase gehen kann. Es ist hierbei keine kalkulierbare Wissenschaft, was den Prozess gerade für Rookies unheimlich kompliziert macht, läuft er doch gleichzeitig vor den Augen der gesamten Welt ab. Was uns zurückbringt zu den Pittsburgh Steelers und ihrem eigentlich doch so profireifen Quarterback-Youngster Kenny Pickett. Auch er sieht sich immensen Herausforderungen gegenüber, von denen man neben der löchrigen Offensive Line der Steelers von außerhalb gerade einmal vielleicht ein Zehntel auch nur erahnen kann. So frustrierend das Warten für die Fans auf den Beweis seines Potenzials auch sein mag, vielleicht ist hier am Anfang weniger mehr und es ist genau der richtige Weg für den jungen Passgeber.

Und das wäre dann nach der reinen Selektion eines jungen Quarterbacks doch tatsächlich das wahre Glück, über welches man sich freuen könnte…

Über den/die Autor/in
Moritz Wollert
Moritz Wollert
Moritz Wollert schreibt für TOUCHDOWN24 u.a. über die NFL. Für das monatliche Print-Magazin schreibt er u.a. die NFL History Artikel

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