Es war das Play des vergangenen NFL-Wochenendes: Jayden Daniels und Noah Brown versenken die Chicago Bears mit einer Hail Mary in letzter Sekunde. Doch nicht nur die heilige Jungfrau wird in Erinnerung bleiben, auch die bahnbrechende Dummheit von Bears-Corner Tyrique Stevenson sorgte für allerlei Schlagzeilen!
Jayden Daniels läuft nach rechts, dann läuft er nach links. Um ihn herum tanzen die anderen Spieler im Schein des Flutlichts, verschwimmen mit der Dramatik letzter, heruntertickender Sekunden. Sein Blick ist immer nach vorn gerichtet, in der Hoffnung auf eine kleine Chance, die eigentlich gar keine ist. Mit dem Mute der Verzweiflung holt er aus, feuert den Ball in den finsteren Himmel Marylands. Gefühlte Ewigkeiten fliegt er durch die Luft, bis zu dem Zeitpunkt, als die Commanders, die gegnerischen Bears und die gesamte NFL den lieblichen Gesang der Heiligen Maria vernehmen.
Washingtons spektakuläre „Hail Mary“
Es ist eines dieser Plays, die es eigentlich gar nicht gibt, die es ob ihrer Unwahrhaftigkeit nicht geben sollte. Auf die hunderte und tausende Male gehofft wird, die aber letztlich meist nur fantastische Wunschträume bleiben. Eine erfolgreiche „Hail Mary“ hinterlässt immer ihre Spuren bei allen Beteiligten und verfestigt sich in den Gedanken all jener, die sie hautnah miterleben durften. Für Jayden Daniels und die Washington Commanders scheint die jüngste Erscheinung der Jungfrau wie die wunderbar süße Kirsche auf einer Torte zu sein, an der sie sich seit Wochen dank ihres atemberaubenden Aufstiegs laben. Ein sportlicher Gaumenschmaus, der so wie es aussieht auf Jahre hin vorzüglich schmecken und ein Rezept für viele andere NFL-Franchises liefern könnte.
Den Chicago Bears vergeht bei derlei Gedanken natürlich jeglicher Appetit und ganz besonders dreht sich der Petz’sche Magen beim Videostudium des letzten Plays um. Schon kurz nach der Partie kursierten Bilder von Bears-Cornerback Tyrique Stevenson im Netz, die ihn noch nach dem Snap zeigen, wie er mit dem Rücken zum Play Handzeichen in Richtung Tribüne abgibt und sich offenbar über die gegnerischen Fans auf den Rängen lustig macht. Erst Momente später dreht er sich um und bequemt sich, am Spielzug teilzunehmen. Er blockt allerdings nicht wie vorher besprochen den späteren Touchdown-Empfänger Noah Brown aus, sondern macht dessen Fang mit seinem Tippen des Balles im Getümmel überhaupt erst möglich. Wie lautet nach buddhistischer Lehre doch gleich das Gesetz des Karmas? Was du säst wirst du ernten.
Der Mega-Bock von Bears-Corner Tyrique Stevenson
In Tyrique Stevensons Fall liegt ein nicht unbedeutender Sturm der Entrüstung im Sammelkörbchen, in den ihn die zumindest zeitweilig heilende Transparenz der sozialen Medien gebracht hat. CBS hatte während der Übertragung noch davon gesprochen, dass er mit Fans gefeiert hätte, durch private Videos kamen die tatsächlichen Ereignisse ans Licht. Der Effekt ging nicht spurlos am 24-Jährigen vorbei, zumindest zeigte er schon bald deutliche Reue. Er entschuldigte sich teamintern bei seinen Mannschaftkollegen und unterstrich hinterher, dass es ihm merklich leid tue, dass er sie enttäuscht habe. Er wolle alles weitere aber gerne innerhalb der Mannschaft halten, es käme nur auf den Locker Room und das Team an. Derlei Phrasen sind hinterher immer schnell gefunden, wenn man einen derart großen Bock geschossen hat, wie Stevenson es getan hat. Auf seinem eigenen X-Profil fiel die Entschuldigung schon ziemlich dürftig aus, aber immerhin bekam er sie in unfallfreiem Englisch heraus und mit einem scheinbar ernst gemeinten Versprechen, in der Zukunft seinen Fehler nicht zu wiederholen.
OMG. While the Hail Mary play was going on Chicago Bears DB Tyrique Stevenson was taunting the crowd and celebrating a victory. He then proceeded to have the ball bounce off his hand and into Noah Brown’s hands for the game winning TD. Talk about karma 🤯 pic.twitter.com/WgxiiA6dzI
— Robert Griffin III (@RGIII) October 28, 2024
Teamkollegen und Coach Matt Eberflus unterstützen dieses Ansinnen und bezeichnen den Vorfall als eine Möglichkeit zu lernen. Man darf gespannt sein, inwieweit diese wirklich genutzt wird, denn schließlich lassen die Bears wie auch fast alle anderen NFL-Teams seit vielen Jahren ein immer exzessiveres narzisstisches Verhalten ihrer eigenen Spieler durchgehen. Oder war es vorher nicht klar, dass man nicht auf dem Feld rumtanzen, den Gegner sowie seine Fans beleidigen oder sich mit ausuferndem „Look at me“-Gehabe zum Gespött machen sollte? Es vergeht kein mickriger First Down mehr ohne einstudierte Pose, es vergeht kein abgewehrter Ball mehr ohne wildes Trommeln auf dem eigenen Ego. Der alte Mann, der die Wolken anbrüllt, mag Social Media als einen wichtigen Grund für diese Unsitten ansehen, ganz Unrecht hätte er bei aller fehlgeleiteten Verbitterung damit sicher nicht. Dabei ist diese Tendenz letztendlich nicht nur ein Problem der National Football League. Man denke nur an selbstdarstellerische Ergüsse von Politikern oder anderen vermeintlichen Berühmtheiten, die denen der nach schneller, billiger und letztlich leerer Bedeutung lechzenden Massen vorausgehen.
Der schleichende Werteverfall der NFL
Aber zurück zum Football: Wie geht man als Team mit solch einer Geschichte und solch einem Verhalten um? Wären Bill Parcells oder Vince Lombardi bei den Bears verantwortlich, könnte Mr. Stevenson ganz sicher schon mal auf Ebay nach günstigen Umzugskartons gucken. Als eine Art Zeichen ist es letztendlich auch in einer hochprofessionellen Branche sicherlich nicht zu unterschätzen, garantiert dies doch zumindest, dass man in der Zukunft aus so einem dämlichen Grund kein Spiel mehr verliert. Man mag sich gar nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn dieser Fauxpas die Bears ihre Saison oder Gott bewahre irgendwann einmal den Super Bowl gekostet hätte. Wäre es dann auch eine „Learning Experience“ gewesen? Müsste man dann auch daraus wachsen, wie Eberflus es bezeichnete? Nein, denn dann wäre es zumindest aus sportlicher Sicht zu spät.
Aber die Warnzeichen werden wohl auch jetzt im Nachgang dieser Geschichte ignoriert werden. Es hat ja schließlich auch nicht gereicht, dass Zay Flowers letztes Jahr im AFC Championship eine Flagge für Taunting auf ganz großer Bühne kassiert hat, nein, das Showboating geht unvermindert weiter. Nicht nur, weil die modernen Spieler einen Hang dazu haben, sondern auch weil Teams es zulassen und Medien es oftmals sogar noch befeuern. Bei allem Verständnis und aller Unterstützung für das Ausleben von Emotionen, die in gewisser Form ja als Ausdruck des eigenen Selbst verbucht werden können, die Grenzen sind hier längst in problematische Bereiche abgedriftet. Dass sie noch nicht gänzlich verrutscht sind zeigt ebenfalls eine Szene vom sonntäglichen Abend in Landover. Kurz nach der erfolgreichen Hail Mary und mitten in einem zum Tollhaus verwandelten Northwest Stadium verzichtete Commanders-Cornerback Emmanuel Forbes für einen Augenblick auf das ausgelassene Feiern und ging stattdessen zu am Boden sitzenden wie zerstörten Gegenspielern, um sie zu trösten und ihnen ein paar ermunternde Worte mit auf den Weg zu geben. Eine Szene, die in jeglichen Nachbereitungen untergehen wird, die aber in Hinblick auf die durchaus vorhandene Vorbildfunktion des Sports viel wichtiger ist als so vieles andere. Darin steckt echte Klasse, darin steckt Empathie, darin stecken jene Werte, die weit über das Feld hinausgehen sollten.
Und für die man eigentlich auch gar kein Gebet zum Himmel schicken muss.