Mike White von den New York Jets erträgt große Schmerzen für seinen NFL-Traum. Credit: Imago Images / USA Today Network / Mark Konezny

In der NFL gehören Verletzungen zum Alltagsgeschäft, auch schwerwiegende wie Knochenbrüche oder möglicherweise karrieregefährdende wie Gehirnerschütterungen. Trotz gesteigertem Sicherheitsbewusstsein und Horrorgeschichten über Versehrtheit im Alter gilt für viele Spieler trotzdem noch das Mantra "Spielen um jeden Preis". Der Grund dafür ist tief in der Seele des Spiels verwurzelt.

Vor Matt Milano, dem Star-Linebacker der Buffalo Bills, teilt sich kurz nach dem Snap die grün-weiße See und plötzlich offenbart sich ihm ein freier Weg Richtung gegnerischem Quarterback. Er nimmt Tempo auf, ist in einem Augenblick schon auf Höchstgeschwindigkeit, mit welcher er seinen Körper in einen zielsuchenden Torpedo verwandelt. Jets-Quarterback Mike White ist mitten in dessen Fadenkreuz und wird seinen Pass gerade noch los, als ihn der Verteidiger mit der Wucht einer Dampframme überrennt. Es scheint, als würde der Signal Caller in der Mitte einfach durchgebrochen, laut ist der Knall, mit dem Milano ihn niederstreckt und auf der eisigen Tundra des Highmark Stadiums aufschlagen lässt. Dort bleibt White mit schmerzverzerrtem Gesicht liegen, er ringt aufgrund scheinbar malträtierter Rippen nach Luft und kann sich kaum bewegen. Minuten später wird er in den New Yorker Locker Room geführt, das Spiel und vielleicht mehr scheint für ihn beendet.

Mike Whites NFL-Traum beispielhaft für viele andere

Als das Echo des brutalen Zusammenpralls gerade verstummt ist, da kommt aber tatsächlich ein sichtlich leidender Mike White wieder durch den Tunnel gejoggt. Selbst die Kommentatoren Jim Nantz und Tony Romo können es kaum fassen, dass White auf das Feld zurückkehrt und ein letztendlich nicht erfolgreiches Comeback seines Teams mit aufopferungsvoller Hingabe orchestriert. Erst scherzt Romo noch, dass White wie Daniel LaRusso im alten Klassiker "Karate Kid" kämpfen will, später aber äußert der vielleicht beste Kommentator der Liga weitaus bemerkenswertere Worte in Bezug auf Whites Einsatz. Romo sagt über das sich vor seinen Augen abspielende Drama: "Das hier ist es, er spielt um sein Leben." Was übertrieben und martialisch daherkommen mag, ist letztendlich nichts als die Wahrheit. Eine reine, ungeschönte Realität im harten Geschäft Profifootball, bei der das emotionale, existenzielle Aufladen der Sportart einen Großteil seiner unermesslichen Faszination ausmacht.

Denn für den 27-Jährigen White geht es derzeit um nicht weniger als um sein Leben als NFL-Footballer. Jenes das in Kindertagen auf kleinen Feldern in Florida anfängt, auf der Straße und in Hinterhöfen. Was mit aufkommendem Talent durch Erfolge genährt wird, in dem eine Flamme der Leidenschaft so hell zu leuchten beginnt, wie es sich fast jeder kleine Junge irgendwann einmal erträumt, wenn er einen Ball in die Hand nimmt. Für White ist der Traum mit seinem Sprung in die NFL real, er ist greifbar, niemals mehr als in diesen Tagen, in denen er vom dritten Quarterback zum Kult-Werfer bei den Jets heranzureifen scheint, den Mitspieler wie Fans über alles lieben und für den sie alle eine uramerikanische weil so unrealistische Aschenputtel-Geschichte herbeisehnen. Ohne echte Alternativen im aktuellen Kader ist der Rest der Saison Mike Whites Chance, sich dauerhaft für den so lange vakanten Job des Jets-Quarterbacks zu empfehlen. Es heißt also jetzt oder nie. Dafür steckt man dann fast knochenbrechende Hits ein, die einen nach Spielende direkt ins Krankenhaus fahren lassen, schleppt sich mit stechenden Schmerzen von Snap zu Snap, um sich erneut ins Visier blutrünstiger Verteidiger zu stellen. Weil es eben um scheinbar alles geht.

In der NFL zählt Härte seit jeher zum Geschäft

Whites Auftritt am vergangenen Wochenende ist bei Weitem nicht der Erste dieser Art in der National Football League, noch wird er der letzte sein. Früher, so werden es die Altvorderen noch bis an ihr Lebensende berichten, war es sogar noch viel schlimmer. Damals, als man noch nichts von den Effekten von Gehirnerschütterungen wusste oder wissen wollte, wo testosterongetriebenes Machismo beinharte Kerle mit gebrochenen Knochen spielen ließ und gesundheitsgefährdende Manöver zur alltäglichen Defensivstrategie gehörten. Heute hat sich in dieser Hinsicht viel verändert, den inneren Drive der Spieler beeinflusst dies aber nur bedingt. Quasi wöchentlich sieht man Profis, die ihre Coaches Hände ringend beknien mit der Absicht, trotz einer Verletzung wieder auf das Feld zurückzukehren. Das Concussion Protocol der NFL schützt viele Profis mittlerweile vor sich selbst, auch wenn es selbst hier noch zu Schwierigkeiten kommen kann, wie der erschütternde Fall von Tua Tagovailoa aus dieser Saison eindrucksvoll ans Licht brachte.

Es steckt einfach im Selbstverständnis eines Football-Spielers, dass er Attribute wie Schmerztoleranz, Leidensfähigkeit oder körperliche Härte vorlebt. Dieses Mantra wird durch ein Geschäft, in dem es um Milliarden und Siege für die Ewigkeit geht, nur noch untermalt. Die alten Legenden von tonnenweise Spritzen und Schmerzmitteln im Locker Room, von ethisch fragwürdigen Entscheidungen hinter verschlossenen Türen, vom leichtfertigen Abwägen zwischen Ertrag wie Risiko, sie sind seit vielen Jahren und Jahrzehnten bekannt. Die Spieler bilden hier einen Teil des Systems, in dem es aufgrund der Körperlichkeit des Spiels schlichtweg nicht möglich ist, schwerwiegende physische Folgen komplett auszuschließen. Für sie ist die Sportart in vielen Fällen längst eine Droge, auf die sie nicht verzichten können, auch weil es nicht selten fast alles ist, was sie in ihren früher perspektivlosen Leben als erstrebenswert erachten. Wie stark dieser Drang zum Spielen ist zeigt abermals das Beispiel Mike White, der nach einigen Jahren als Backup-Quarterback schon an den fünf Millionen Karriereverdienst kratzt und Vater von Zwillingen ist. Er hätte eigentlich vieles, wofür es sich lohnen würde, aufzugeben, vieles, für das es sich lohnen würde, kein Risiko einzugehen. Er tut es trotzdem, so wie viele andere.

Für Mike White sind die Hits "einfach Football"

Von außen wirkt die Entscheidung, welche verletzte Spieler in der NFL für sich treffen, in manchen Fällen heroisch, in anderen wie purer Leichtsinn. Sie ist allerdings in Unkenntnis eines jeden einzelnen persönlichen Wertesystems nur ganz schwer zu bewerten, in etwa so schwer wie es manchmal ist, sie zu verstehen. Aber für viele Profis, die nach Jahren des aufopferungsvollen Kämpfens um ihren Traum in fast jeder Trainingseinheit vor der Arbeitslosigkeit und damit vielleicht vor ihrem Karriereende stehen, ist sie oft sehr einfach. Sie wollen weiter in der NFL dabei sein, dann müssen sie jeden Snap so spielen, als ob es ihr letzter wäre. Damit sie sich gerade so noch einmal für eine Woche am hintersten Wagen der Karawane festkrallen um dann vielleicht am Spieltag darauf das eine Play zu machen, welches ihnen einen neuen Vertrag, eine neue Perspektive, ja ein neues Leben verschafft. Sie haben oftmals gar keine Wahl, was einerseits brutal, andererseits eben Football ist.

Teil dieses Spiels sind Momente, wie sie Mike White am eisigen Sonntagnachmittag in Buffalo präsentierte. Er beschreibt es einen Tag darauf selbst in seiner Pressekonferenz. "Die Hits, das ist einfach Football", sagt er sogar mit einem leichten Anflug von einem Lächeln auf den Lippen, das von kindlicher Begeisterung zeugt. "Im Spiel könntest du natürlich darauf verzichten, aber eigentlich vermisst du es, wenn du nicht da draußen bist. Du willst deinen Jungs beweisen, dass du für sie da draußen einen einstecken kannst und dass du für sie alles riskieren würdest." Nicht für sich selbst, sondern für seine Kameraden. Womit er einen weiteren besonderen Geist im großen Mysterium American Football beschwört. Einen, der manchmal das Unmögliche, ja vielleicht auch das Erschütternde möglich macht…

Über den/die Autor/in
Moritz Wollert
Moritz Wollert
Moritz Wollert schreibt für TOUCHDOWN24 u.a. über die NFL. Für das monatliche Print-Magazin schreibt er u.a. die NFL History Artikel

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